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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,3.1911

DOI Heft:
Heft 15 (1. Maiheft 1911)
DOI Artikel:
Marr, Heinz: Mensch und Maschine: auch eine Osterbetrachtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.9032#0204
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doch seinen schärfsten Ausdruck gerade in der seelischen Verfassung des
Industriearbeitervolks! — Betrachten wir das proletarische Klassen-
bewußtsein rein auf seinen Geist hin, so mutet es an wie eine volks-
tümliche Wiederholung des Zeitalters der Aufklärung, wie eine Ver-
gröberung allerdings. Es fehlen die Grazie und die kristallene Klar-
heit der Gedankenführung, der Esprit und die Frivolität, wie sie die
geistige Oberschicht des s9- Iahrhunderts zeigte, aber alle entschei-
denden Züge sind da: wir finden denselben zivilisatorischen Dünkel,
dieselbe Geschichtslosigkeit des Denkens, dieselbe Naturfremdheit, den
gleichen unbeschwerten Glauben an das Angeboren-Gute im Menschen,
das gleiche fabelhafte Vertrauen auf die Wissenschaft und die durch-
dringeude Macht der Vernunft, wobei wiederum die Naturwissen-
schaften Grundlage des Weltbildes sind. Wir finden zumal dieselbe
zwischen Scheu und jäher Neugierde schwankende Abneigung gegen
das Amfaßbare und Anmeßbare. And aus dieser seelischen Ver-
fassung entstand etwas, das im geschichtlichen Verlauf unsrer Kultur
völlig neu ist, nämlich die Religionslosigkeit als Mas-
senzustand, der Bruch des Volksgefühls mit seinen tiefsten Äber-
liefernngen! Aber diese Absage, die das proletarische Bewußtsein als
Befreiung, Selbstbefreiung auffaßt und feiert, ist in Wirklichkeit ver-
zweifelte Notwehr seiner weltlichen Zuversicht, auf keinen
Fall Zustand schläfriger Ruhe, auf jeden Fall etwas, das dem Volks-
empfinden auf die Dauer durchaus unerträglich werden muß.

So haben die wohl recht, die eine Wiederkehr religiöser Bedürfnisse
ahnen und überall die Auflehnung des schwerentrechteten Gemütslebens
beginnen fühlen. Aber unter denen, die eine religiöse Erneuerung
der Volkskultur wollen, gibt es merkwürdig wenige, die sich klar
wären, daß gerade dieser ihr Wille die seelische Sicherheit des Prole-
tariats erschüttern, sein Gefühl für die Tragik „Mensch und
Maschine" wecken und so zunächst schwere Anruhe hervorrufen muß!
Es ist ja nicht Beschränktheit und Böswilligkeit, wenn das Arbeiter-
leben sich immer entschiedener und starrer gegen solche Einwirkungen
auflehnt, es ist Instinkt der S e lb st er h a l t u n g. Und so werden
sich Sozialismus und Religion, mag man gleich ihre Verwandtschaft
aus begreiflichen geschichtlichen Zusammenhängen noch so ost betonen,
auf dem Wege des Kompromisses nicht begegnen können, sondern
hier wie in der ganzen Front des modernen Lebens in einer erschüt-
ternden Auseinandersetzung.

Noch ist die Zeit nicht reif, aber indem wir uns auf sie einrichten,
werden wir die Anforderungen der Gegenwart tiefer verstehen und die
soziale Aufgabe nicht allein als z i v i li sa t o r is ch e Sorge, sondern
voll als Kulturproblem begreifen lernen. Noch ruht unsre tech-
nische Kultur auf Massen, die an die Maschine glauben, soll sie
nicht in sich unmöglich werden, so gilt es, diesen Besitz zu erhalten.

Heinz Marr

k- Maiheft Wi sS7
 
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